Minimalismus lernen

kisten

Ich bin in einem Messie-Haushalt aufgewachsen. Meine Mutter war und ist bis heute nicht in der Lage, Dinge wegzuwerfen oder weiterzugeben. Weil sie ein Geschenk waren, weil sie sie an eine bestimmte Zeit ihres Lebens erinnern, weil sie mal viel Geld gekostet haben oder weil sie irgendwann einmal viel Geld wert sein könnten (nicht, dass sie sie dann verkaufen würde…). Die Liste der Argumente, die ich jedes Mal zu hören bekam, wenn ich ihr verzweifelt vorgeschlagen habe, doch mal zusammen auszumisten, war endlos und emotional.

Die ‚Regeln‘ meiner Mutter galten auch für mein Zimmer. Mit etwa dreizehn Jahren hatte ich den vermutlich größten Streit meines Lebens mit ihr, weil ich mich gewagt hatte, einige meiner Zeichnungen und Schulhefte aus der Grundschule ins Altpapier zu werfen, da ich zu diesem Zeitpunkt großes Interesse daran hatte, den Schrankteil meines Schreibtisches, der bis dahin für mich tabu gewesen war, da er Teil des Erinnerungs-Archivs meiner Mutter war, tatsächlich nutzen zu können.

Ich zog die einzige Konsequenz, die man in diesem Alter wohl ziehen kann: Ich drohte damit, zu meinen Großeltern zu ziehen. Als Kompromiss wurde mir dann ein Zimmer im Keller geräumt, in das ich nur mit den Dingen, die ich wirklich behalten wollte, einzog, während meine restlichen Besitztümer (zusammen mit den Dingen aus dem Kellerzimmer) in meinem alten Kinderzimmer zum Einstauben archiviert wurden, wo sie bis zur Aufgabe der Wohnung nach dem Tod meines Vaters, mehr als zehn Jahre später, blieben. Das Zimmer war damit (so wie drei Viertel der restlichen Wohnung auch) zu einer unbenutzbaren Lagerhalle geworden.

Vielleicht braucht es Extrem-Erfahrungen wie diese, um den Wert von Nicht-Besitz tatsächlich begreifen zu können. Den Gedanken, wie viel Miete meine Eltern über 20 Jahre dafür bezahlt haben, Dinge zu lagern, die noch nicht einmal einen winzigen Bruchteil dieser Miete wert waren. Den Gedanken, wie hart meine Eltern dafür gearbeitet, wie viel Zeit ihres Lebens sie dafür geopfert haben, ein schönes, großes Haus zu mieten, in dem sie dann effektiv nicht mehr Platz zum Leben hatten als in einer Garage. Den Gedanken, wie viele Freunde ich hätte in mein Kinderzimmer einladen können, wenn einfach nur ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch darin gestanden hätten, und nicht sämtliche Spielsachen und Kuscheltiere, die ich seit meiner Geburt bekommen hatte, inklusive eines lebensgroßen Plüsch-Löwen vom Jahrmarkt und dem selbstgebauten Kaufladen, den ich mit drei Jahren von meinem Opa bekommen hatte.

Nach meinem Auszug von zu Hause für’s Studium durfte ich zum ersten Mal das erleben, was für die meisten anderen wohl Normalität ist, für mich aber ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit war: Sich in jede Ecke der Wohnung tatsächlich hinbewegen zu können. An alle seine Dinge tatsächlich dranzukommen und sie benutzen zu können. Überhaupt zu wissen, was man denn alles besitzt. Freiraum zu haben, um Freunde nach Hause einzuladen oder einfach mal mehrere Quadratmeter Stoff auf dem Boden auszubreiten, um ein Schnittmuster zu übertragen.

Natürlich war meine Wohnsituation damals noch weit entfernt von dem, was man als Minimalismus bezeichnen würde. Und eine Weile war ich überzeugt, dass Normalität alles sei, was ich mir wünsche. Und auch wenn ich nun immer wieder mal – wie ein ganz normaler Mensch – Sachen ausgemistet und bei Ebay verkauft, verschenkt oder sogar weggeworfen habe, hat es noch zwei weitere Umzüge gebraucht, bis ich mich dabei ertappt habe, dass ich, wenn auch in viel kleinerem, unauffälligerem Ausmaß, immer noch das selbe tat wie meine Eltern.

Ich besaß mehrere Kisten voll mit Stoffen, Bastelsachen und Künstlerbedarf, für die ich keine konkreten Projekte im Auge hatte, sondern die ich nur bunkerte, weil ich sie „ja vielleicht irgendwann einmal für etwas gebrauchen könnte“. Die Hälfte meines Kleiderschrankes war voll mit Kleidung, die schon lange nicht mehr meinem Stil entsprach und die ich deshalb seit Ewigkeiten nicht getragen hatte. Enie und ich hatten eine enorme Sammlung von CDs, DVDs und Büchern, von denen wir viele seit Jahren nicht mehr gehört oder geschaut hatten, die Bücher einmal gelesen und dann „falls man es mal jemandem ausleihen will“ aufbewahrt. Wir besaßen zwei komplette Geschirr-Sets (von denen wir uns übrigens keines selbst ausgesucht, sondern die wir beide geschenkt bekommen hatten) und ein schier unendliches Arsenal an Back-Utensilien, die wir noch nie benutzt hatten (ebenfalls größtenteils Geschenke). Und ja, auch in unserem Keller gab es dann doch gleich mehrere Kisten mit Dingen, die man eigentlich weder brauchte noch mochte, aber die als Erinnerungsstücke aufgehoben werden mussten. Mit so viel Besitz kommt natürlich eine ebenso große Zahl an Aufbewahrungsmöbeln.

Und als wir all die zerlegten Schränke und Regale nebst den unzähligen Umzugskisten beim letzten Umzug erst drei Stockwerke herunter und dann wieder drei Stockwerke hinauf trugen, stellte sich mir eine Frage: Warum? Warum verschwende ich so viele Stunden meines Lebens damit, Dinge herumzutragen, die ich vermutlich bis zum nächsten Umzug wieder nicht in die Hand nehmen werde? Warum zahle ich Miete dafür, diese Dinge bei mir unterzustellen? Warum wische ich Woche für Woche den Staub von ihnen und schiebe sie umher, um in allen Ecken den Boden putzen zu können?

Jedes einzelne Ding, das man besitzt, kostet fortlaufend Zeit und Geld. Eine Tatsache, derer sich in unserer Gesellschaft vermutlich niemand so richtig bewusst ist. Minimalismus bedeutet für mich, nur noch das zu besitzen, was einem diese Zeit und dieses Geld tatsächlich wert ist, und stattdessen mehr davon übrig zu haben für die Dinge und Personen, die wirklich wichtig sind.

Mit diesem Grundgedanken, der für mich Minimalismus zu einem so wichtigen Lebensprinzip macht, möchte ich eine Blog-Serie starten, in der ich nach und nach verschiedene Lebensbereiche behandle, Tipps dazu gebe, wie man sich von Dingen trennt und wo man sie loswerden kann ohne sie gleich wegwerfen zu müssen. Ich hoffe ihr freut euch schon so sehr darauf wie ich und werdet fleißig mitlesen.

Let it go* und do the simple shit

♡ MEZZO

 

* Ja, jetzt hast du einen Ohrwurm. Gut gemacht, Mezzo. 😉

 

 


6 Gedanken zu “Minimalismus lernen

  1. Toller, ehrlicher Bericht! Ich freue mich sehr über Deine neue Blog Serie, das Thema beschäftigt mich auch. Ich denke immer, das beste Entrümplungsprogramm ist, einfach wenig Neues zu kaufen, auch wenn es sooo schön ist. Die Frage: Brauch ich es wirklich? und das Bewußtsein, dass es morgen etwas noch Schöneres geben wird, relativiert doch vieles 🙂
    Eine Frage hätte ich noch:….liest Deine Mutter diesen Blog? 🙂
    Liebe Grüße aus Ottilies Küche, in der auch oft zuviel rumsteht 😦

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    1. Danke! ❤ Zum Thema Neuanschaffung von Dingen werde ich definitiv auch einen Artikel schreiben, da gibt es ja doch so einige Überlegungen und Fragen, die man sich stellen sollte…
      Meine Mutter liest ab und zu mal meinen Blog (meistens nur, wenn ich sie extra darauf hinweise – vielleicht sollte ich das bei diesem Artikel durchaus mal tun). Sie weiß, was meine Ansichten zu dem Thema sind, da ich auch schon oft genug mit ihr persönlich darüber geredet habe, nur leider kann sie diese in den meisten Fällen überhaupt nicht nachvollziehen und sieht das, was ich als Problem sehe, selbst nicht als Problem an. 😦

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  2. Ja, ich habe jetzt einen Ohrwurm. Aber ja, ich freue mich trotzdem auf die Blog-Reihe. 😉
    Nein, ernsthaft: Ich freue mich wirklich auf deine Ideen und Tipps! Bei uns entdecke ich im Alltag immer wieder ‚Probleme‘ in der Umsetzung. Immer wieder kommt es auch zu Konflikten, weil der eine etwas für notwendig erachtet und der andere nicht. Der enie hängt emotional so sehr an etwas, dass es nicht weggegeben werden kann, dem anderen steht es immer im Weg rum. Ich neige dazu Werkzeug zu ’sammeln‘ und rede mich damit raus, dass der Neuanschaffungswert (selbst gebraucht) so hoch ist, dass ich es lieber ein halbes Jahr ungenutzt im Regal stehen lasse. – Die sporadische Nutzung verschiedener Dinge ist ohnehin eins meiner ‚Probleme‘ beim Minimalismus. Zum Beispiel haben wir zwei kleine Tischventilatoren für den Sommer, weil geöffnete Fenster alleine nicht viel Luftzug in die Wohnung bringen. Das heißt wir brauchen sie vielleicht 3 Monate im Jahr, in denen aber intensiv und (zumindest für mich) sehr dringend. Die restlichen 9 Monate nerven sie mich, weil sie rumstehen. Vielleicht hast du zu solchen Fällen eine Idee, die du in einem deiner Beiträge aufgreifen kannst! 🙂
    Insgesamt stimme ich dir von vorne bis hinten voll und ganz zu! Es wird viel zu selten und zu wenig ausgemistet. Und wenn dann doch mal, wird viel zu viel weggeworfen. Leider oft auch ‚zwangsweise‘. Anfang letztes Jahr habe ich angefangen zu versuchen einige alte Kameras und diverse andere Dinge aus einem Nachlass zu verkaufen. Mehr als die Hälfte steht immer noch hier. Inzwischen würde ich das meiste davon sehr gerne verschenken, aber selbst so will es niemand haben.
    Will sagen: Leider kaufen die meisten Menschen immer noch lieber Neuwaren, als funktionierende Gebrauchtwaren. Und weil Neuwaren aber ja meist teuer sind, wird nur Billiges gekauft. Und über die Konsequenzen brauchen wir gar nicht erst reden 😦
    Trotz allem viele liebe Grüße ausm Pott vom Chris, der gleich sein Fahrradlader um einen weiteren (semi-nützlichen) Cruiser erweitert 😀

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    1. Boah, der Chris liest meinen Blog! 😀 Dabei hab ich immer das Gefühl, dass meine Freunde sich voll nicht für die Blogger-Mezzo interessieren. 😉 Mh, einen Teil der Serie sollte ich vielleicht den besonderen Ansprüchen gemeinsamer Haushalte widmen. 🙂 Wobei ich, so glaube ich, dazu auch nicht viel mehr zu sagen hätte, als dass es in dem Falle *sehr* nützlich ist, gemeinsam feste Prinzipien zum Ausmisten festzulegen, und dann ohne wenn und aber danach vorzugehen. Aber, ja, bei uns gibt es auch Bereiche, die ich alleine vermutlich viel radikaler reduzieren würde (CDs zum Beispiel) und andere, in denen Enie auf viel mehr verzichten könnte als ich (Bastel- und Künstlerzeugs).
      Ich glaube beim Werkzeug muss man sich auch diesen ‚Ist es die Miete wert, die ich dafür zahle?‘-Gedanken vor Augen führen. Wenn du das mal für die Quadratmeter, die deine Werkzeugsammlung einnimmt, hochrechnest, dann merkst du vielleicht, dass du, falls du tatsächlich in drei Jahren mal eins davon brauchen solltest, du es in der Zwischenzeit schon fünfmal hättest neu/gebraucht kaufen können… Viele Dinge kann man ja auch einfach leihen (bei Freunden oder beim Baumarkt), wenn man sie wirklich mal braucht.
      Wenn die Ventilatoren wirklich unverzichtbar sind im Sommer, würde ich ihnen für die restlichen Monate einen festen, staubgeschützten Platz suchen und gut ist. Gibt bestimmt Unnützeres, was stattdessen gehen kann… Alternativ könntest du einen magnetbetriebenen Deckenventilator bauen und installieren (das ist eine brilliante Mezzo-Idee, an deren Umsetzung es aber bisher hapert 😉 ).
      Dinge verschenken kann man tatsächlich über diese „Stadt XY tauscht/verkauft/verschenkt“-Gruppen bei Facebook echt gut, da bin ich letztes Jahr sehr viel Plunder losgeworden (habe auch jetzt schon wieder eine riesen Menge hier rumstehen, die nur noch eingestellt werden muss).
      Dann noch viel Spaß bei Schrauben! 😀

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  3. Ich kann deine Erfahrung halb teilen. Zwar sind meine Eltern weit entfernt davon, Messies zu sein, aber lupenreine Konsumisten sind sie. Gelegentlich überkommt mich der Drang, alle möglichen Gegenstände und Produkte in einer Reihe auf den Esstisch zu stellen und meine Eltern zu fragen, ob wir sie wirklich brauchen, doch traue mich nicht..
    Kennst du The Minimalists? Du wirst es nicht bereuen, nach ihnen zu suchen. Ach, und falls es dich interessiert: auf meinem Blog habe ich auch mal zwei Texte über Minimalismus veröffentlicht. Falls du Inspiration brauchst, kannst du gerne vorbeischauen. 🙂

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    1. Danke für den Kommentar! Hab eben deinen Blog mal überflogen und ich glaube ich werde da viele Stunden sehr interessiert lesen können und wenn ich das getan habe auch gerne mal kommentieren. 😉 Und The Minimalists werde ich definitiv mal googeln, danke für den Tip! 🙂

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